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Ein wenig Leben - Hanya Yanagihara

Hallo, ihr Bücherverrückten. Wer hat den Roman „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara schon gelesen und genauso sehr mit der Hauptfigur Jude mitgelitten wie ich?

 

Ich habe geweint, war wütend, fassungslos und niedergeschlagen. Das Buch erzählt die Geschichte von vier Freunden, die sich am College kennen- und lieben lernen. Willem ist angehender Schauspieler und kellnert während seiner Studienzeit im Ortolan, einem angesagten Restaurant in New York, bis ihm sein Durchbruch zu einem weltberühmten Star gelingt. Malcolm ist Architektur Student und wird immer wieder von Selbstzweifeln geplagt, da er Angst hat den Erwartungen seiner Eltern nicht zu entsprechen. Jean-Baptiste, kurz „JB“ ist Künstler und möchte mit seiner Arbeit berühmt werden. Die drei Männer müssen sich im Laufe ihrer Jahre am College, all' den Problemen stellen, die junge Heranwachsende so durchleben. Sie kämpfen mit Identitätsproblemen, den elterlichen Erwartungen, der sexuellen Orientierung und geben viele Einzelheiten über ihre Kindheit und Geschichte preis.

Im krassen Gegensatz dazu steht die Geschichte von Jude St. Francis. Er studiert Jura und ist unglaublich intelligent. Er fühlt sich in der Gesellschaft der anderen drei Männer sehr wohl, möchte allerdings nichts über seine Kindheit erzählen. Die Freunde wissen nicht woher er kommt, woher er seine Verletzungen an den Beinen hat, warum er auch im Sommer bei Höchsttemperaturen lange Kleidung trägt und was seine immer widerkehrenden Anfälle, während deren er sich vor Schmerzen am Boden zusammen kauert, zu bedeuten haben. Obwohl Willem, Malcolm und JB keine Einzelheiten von Judes Geschichte erfahren, sind sie die besten Freunde, die er sich wünschen könnte. Sie helfen ihm in jeder Lebenslage und begleiten ihn auf dem schweren Weg, den er noch vor sich hat. Vor allem Willem und Jude haben ein ganz besonderes Verhältnis zueinander und wohnen lange Zeit zusammen in einer Wohnung. Sie kommen nie wirklich voneinander los und ihre Beziehung entwickelt sich im Laufe des Romans weiter.

Achtung im weiteren Verlauf wird die Rezension Spoiler enthalten! Außerdem wird es um das Thema sexuellen Missbrauch und Gewalt bzw. deren Folgen gehen. Bitte lest nicht weiter, wenn ihr mit den Themen in irgendeiner Art und Weise Schwierigkeiten habt umzugehen.


Jude hatte eine schreckliche Kindheit, er wurde über Jahre lang sexuell missbraucht und ausgebeutet. Er hat so viel Gewalt und Missbrauch in seiner Kindheit erlebt, dass er sich nur Erleichterung verschaffen kann, in dem er sich ritzt. Diese Form der Selbstverstümmelung gibt ihm die Möglichkeit Herr über seine Gedanken zu werden. Er lässt den „Schmutz“ den er in sich zu tragen glaubt hinaus und die Schmerzen werden erträglicher. Jude kann sich niemandem öffnen, da er verlernt hat zu vertrauen. Sein immer widerkehrendes Misstrauen, dass Menschen, die ihm nahestehen, ihn wegstoßen werden, wiederholt sich immer und immer wieder. Selbst als Harold Stein, sein Mentor an der juristischen Fakultät, ihn adoptiert, kann er mit diesen Glücksgefühlen nicht umgehen, da er glaubt, diese nicht verdient zu haben. Er bildet sich ein Harold und Julia in irgendeiner Art und Weise getäuscht zu haben, da er ihnen die Erlebnisse seiner Kindheit nicht erzählen kann. Jude muss sich immer wieder daran erinnern, wie viele Menschen ihn lieben und wollen, dass es ihm gut geht.
Nach einer weiteren traumatischen Erfahrung in einer Beziehung zu einem Mann, die im Krankenhaus bei seinem Arzt des Vertrauens endet, glaubt Jude am Ende angekommen zu sein. Er regelt seinen Nachlass und begeht einen Selbstmordversuch, der durch bloßen Zufall verhindert werden kann. Willem ist untröstlich und bleibt nun ständig an der Seite seines Freundes. So erkennt Willem seine Gefühle für Jude und eine Weile leben sie glücklich miteinander. Jude versucht Willem ein guter Sexpartner zu sein, doch beginnt sich mit Anfang der sexuellen Beziehung wieder vermehrt zu schneiden. Willem möchte das nicht und es kommt zum Eklat, als Jude sich absichtlich eine Verbrennung höchsten Grades hinzufügt und Willem belügt. Zum ersten Mal in Judes Leben berichtet er einem Menschen von den unaussprechlichen Dingen, die ihm die Männer in seiner Kindheit angetan haben. Willem nähert sich seit diesem Zeitpunkt Jude nie wieder auf sexuelle Art und Weise und für die beiden beginnt eine Zeit, die sie im Nachhinein „die glücklichen Jahre“ nennen. Als Leser ist man froh und glücklich, dass Jude endlich sein dunkles Geheimnis einer Person anvertraut hat und damit nun einen besseren Umgang zu haben scheint.
Judes berufliches Leben könnte, im Gegensatz zu seinem Privatleben, nicht besser laufen. Er ist Partner bei einer angesehenen Anwaltskanzlei und verdient Unmengen an Geld. Der Aufstieg von einem Waisenjungen, abgelegt neben einer Mülltonne, zu einem Top Elite Anwalt in New York City mag sich für manche, wie das Leben des amerikanischen Traums anhören. Für Jude ist die Arbeit ein Rückzugsort und er übt sie im Gerichtssaal brillant und gnadenlos aus.
Leider muss Jude kurz vor Ende des Buches den Verlust von Willem betrauern. Er, Malcolm und seine Frau versterben bei einem Autounfall. Jude versinkt daraufhin in einer Parallelwelt, in der er so tut, als wäre Willem mit Dreharbeiten zu einem Film beschäftigt. Er beginnt abzumagern und kann sich oft nicht erinnern, wann er zuletzt etwas gegessen hat. Seine Freunde und Familie lassen ihn daraufhin zwangsernähren, aber selbst sie ahnen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Jude sich von ihnen verabschiedet. Drei Jahre nach Willems Tod folgt ihm Jude und ich hoffte inständig dass sein Leiden nun ein Ende hat.

 

Mein Herz blutet. Es blutet für Judes verlorene Kindheit, für seine Sprachlosigkeit den Schmerzen keine Gestalt geben zu können, für seine Kraft seine Wut all' die Jahre so kontrolliert zurück gehalten zu haben. Die deutsche Übersetzung hat 960 Seiten, die ich mein Leben lang nie bereuen werde gelesen zu haben. Judes Trieb an Selbstzerstörung hat mich dabei,nahe an den Abgrund getrieben. Die Machtlosigkeit der Figur nicht helfen zu können, zu wissen, dass es für Jude und seine „Hyänen“, die er im Roman so eindrucksvoll beschreibt, doch nur ein Ende geben wird, war alles andere als leicht zu akzeptieren und doch war ich auf eine eigenartige Art und Weise erleichtert, dass am Ende des Buches auch seine Schmerzen ein Ende hatten.
Nachdem Willem gestorben war, konnte ich das Buch tagelang nicht zu Ende lesen. Ich wollte nicht, dass Judes Glück schon wieder eine so rigorose Wendung nahm. Kein Protagonist hatte in diesen Momenten des Lesens meiner Meinung nach mehr Glück verdient als Jude. Die Autorin beschreibt auf eindrucksvolle Art und Weise, welchen Einfluss Menschen auf den Lebensweg von anderen haben und wie wichtig bedingungslose Freundschaften zu jeder Zeit sind. Willem und Jude werden in meinem Bücherregal immer einen ganz besonderen Platz haben.

Übersetzt wurde der Roman von Stephan Kleiner und es ist ihm wirklich großartig gelungen.

Das Buch wurde im Hanser Literaturverlag veröffentlicht und garantiert eine Geschichte, die du dein Leben lang nicht mehr vergessen wirst.
https://www.hanser-literaturverlage.de/themen/ein-wenig-leben

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